Eltern gegen Lehrermangel

Wochenlangen Ausfall wollen Eltern in Wernigerode nicht länger tatenlos hinnehmen. Sie organisieren eine Protestaktion.

Volksstimme 21.10.2017 – Julia Bruns

Wernigerode l Nur drei von fünf Stunden Mathe pro Woche, in sieben Wochen bisher eine Doppelstunde Bio – und Geo? Erik, Janne und Helena können sich kaum erinnern, wann sie das letzte Mal in dem Fach unterrichtet worden sind. Lehrermangel und Unterrichtsausfall sind seit Beginn des neuen Schuljahres Alltag für die drei Sechstklässler aus Wernigerode. Um den Unterricht für die Abiturklassen zu gewährleisten, wurden besonders in den unteren Klassenstufen Pädagogen abgezogen.

Die drei Elfjährigen besuchen das Gerhart-Hauptmann-Gymnasium in Wernigerode – eine Schule, die für ihren hohen Anspruch an eine umfassende Bildung der jungen Menschen über die Stadtgrenzen hinaus bekannt ist. „Anstelle des Gerhart-Hauptmann-Gymnasiums kann jederzeit genauso gut jede andere Schule betroffen sein“, sagt Mario Sternitzke. „Es ist ein Problem, das alle betrifft.“

Aktion folgt Brandbriefen

Nachdem aus der Elternschaft mehrere Briefe an Bildungsminister Marco Tullner (CDU) geschickt worden waren, hatten sich Mario Sternitzke und weitere Eltern von Sechst- und Achtklässlern überlegt, wie sie noch auf die prekäre Situation an den Schulen aufmerksam machen können.

Unter der Überschrift „Lehrermangel – Bildung am Küchentisch?!“ organisieren sie für Montag um 15.30 Uhr eine Protestaktion auf dem Markt. „Eltern aus Wernigerode können sich beteiligen, sich an einen mitgebrachten Tisch setzen und so zeigen, dass sie den Lehrermangel nicht länger dulden“, erläutert Mario Sternitzke den Ablauf. Der Stadtelternrat unterstützt die Organisatoren. Der Vorsitzende Rico Wiecker und sein Vize Christian Fischer haben ihre Teilnahme fest zugesagt.

„Wir richten uns an alle Familien in Wernigerode. Welche Schule, spielt keine Rolle, denn das Problem kann jeden betreffen“, betont Andreas Lammers. Im März sei es die Francke-Grundschule gewesen, die wegen akuten Lehrermangels eine Woche schließen musste, in diesem Schuljahr sei die Lage am Gerhart-Hauptmann-Gymnasium nicht mehr hinnehmbar. „Kein Direktor und kein Lehrer kann etwas für die Situation“, so Mario Sternitzke.

Wille zu lernen

Als einige Stunden Mathe am Anfang des Schuljahres ausgefallen sind, hätten sich die Kinder anfangs noch heimlich darüber gefreut. „Aber irgendwann fanden wir es doof, weil wir den ganzen Unterricht verpassen“, sagt Erik. „Wir müssen zu Hause alles nacharbeiten.“ Gemäß der Überschrift ihrer Protestaktion würden viele Eltern abends noch mit ihrem Nachwuchs pauken, sagt Andreas Lammers. Im Februar gehe wieder eine Mathelehrerin in Rente. „Selbst wenn der Matheunterricht jetzt wieder abgesichert ist, werden die Probleme erneut auftauchen“, vermutet er. Er wisse von einem Kind, dessen Eltern regelmäßig in Nachhilfeunterricht investieren, 29 Euro pro Stunde. „Wem dieses Geld fehlt oder wer die Zeit nicht hat, sich mit den Kindern abends hinzusetzen und zu lernen, der hat ein Problem“, sagt er. Das bestätigt Jürgen Köhler. Der Mathelehrer im Ruhestand hat einen Enkel in der sechsten Klasse. „In den unteren Stufen werden die Grundlagen für alles Weitere gelegt“, sagt er. Ehrenamtlich hat Jürger Köhler erstmals in dieser Woche eine Doppelstunde Mathe unterrichtet. „Den Schülern hat es gefallen, mir hat es auch Spaß gemacht.“ Auf dem Plan standen das kleinste gemeinsame Vielfache und Primzahlfaktoren. „Es war auffällig, wie motiviert die Klasse war. Sie haben absolut den Willen, zu lernen“, sagt er.

Es war vorerst sein erster und einziger Einsatz als ehrenamtlicher Lehrer an der Schule. Sollte es wieder eng werden, stünde er erneut zur Verfügung. „Auch wenn ich dafür aus Ilfeld kommen muss“, sagt er.

Im zweiten Halbjahr stehen die Vergleichsarbeiten für die sechsten Klassen an. „Wir sind gespannt, was dabei herauskommt“, sagt Mario Sternitzke. Er hofft, dass sich am Montag viele Familien an der Protestaktion beteiligen. „Wir Eltern sind schließlich verpflichtet, unsere Kinder in ihrer Bildung zu unterstützen“, sagt er.

Zum Hintergrund: Die Vertretungsreserven an den Schulen reichen nicht mehr aus, um krankheits- und anders bedingte Ausfälle im Lehrerkollegium aufzufangen. Zudem bleiben offene Stellen gerade in den naturwissenschaftlichen Fächern und Musik oft über längere Zeiträume unbesetzt.