Zweifel an Tullners Lehrerbedarf

Vor einem Monat legte das Bildungsministerium Zahlen zum Lehrerbedarf in Sachsen-Anhalt vor. Aus einem Expertengremium kommt nun Kritik.

Volksstimme 26.07.2017 – Alexander Walter

Magdeburg l Ende Juni hatte Bildungsminister Marco Tullner (CDU) frohlockt: Erstmals lägen jetzt verlässliche Zahlen zum künftigen Lehrkräftebedarf

in Sachsen-Anhalt vor, sagte er vor der versammelten Öffentlichkeit nach einer Sitzung des Regierungskabinetts. Bis zum Jahr 2030 müssten demnach jährlich 650 Lehrer eingestellt werden, um den Bedarf an den Schulen zu decken. Tullner zog eine gewichtige Argumentationshilfe heran: Die Zahlen basierten auf Berechnungen einer im Bildungsministerium angesiedelten Expertengruppe zur Ermittlung des langfristigen Lehrerbedarfs, erklärte er.

Der ebenfalls anwesende Wissenschaftsminister Armin Willingmann (SPD), der mit Zusagen zu einem Ausbau der Kapazitäten für die Lehramtsausbildung an den Unis bis dahin gewartet hatte, griff die Vorlage direkt auf. Man werde die Kapazität an der Uni Halle nun kurzfristig auf 700, langfristig gar auf mindestens 800 anheben, um den Bedarf zu sichern.

Vorlage am Abend vor Veröffentlichung

Alles geklärt also? Offenbar nicht: Einen Monat nach Veröffentlichung der Zahlen wird ausgerechnet aus der Expertenkommission Kritik sowohl an den Zahlen als auch an deren Zustandekommen laut. Jürgen Banse, Geschäftsführer des Verbands der Privatschulen und Mitglied der Expertenkommission, berichtet, eine echte Diskussion über den Lehrerbedarf habe es nicht gegeben. Ganze drei Mal habe die Expertengruppe seit ihrer Einrichtung im Dezember getagt. Die von Tullner vorgelegten Zahlen seien vom Bildungsministerium erarbeitet worden. Abgestimmt gewesen seien sie nicht. „Erst am Vorabend der Veröffentlichung haben wir sie zum ersten Mal gesehen“, sagt Banse.

Eva Gerth, Vorsitzende der Lehrergewerkschaft GEW und als Vertreterin des Lehrerhauptpersonalrats ebenfalls ein Mal an den Beratungen beteiligt, bestätigt die Darstellung. „Es drängt sich der Eindruck auf, die Gruppe soll die gegenwärtige Politik nur bestätigen“, sagt sie. Beide meinen: Die Zahlen seien zu niedrig. Der Bedarf der Privatschulen werde ebenso unzureichend berücksichtigt wie Langzeiterkrankungen oder Elternzeiten von Lehrern. Die Planung schreibe überdies den bestehenden Mangel nur fort.

Termindruck bei Studienplätzen

Hintergrund für das Vorgehen bei der Veröffentlichung war nach Ansichts Banses Termindruck. Es sei weniger darum gegangen, fundiert berechnete Bedarfe bekanntzugeben als darum, Fristen zur Erhöhung der Studienplatzzahl an der Uni Halle einzuhalten.

Tatsächlich hatte die Uni Halle die Zahl der Studienplätze für Lehramtserstsemester trotz Lehrermangels erst im Mai von 700 auf 550 Plätze gesenkt. Um langfristig Überhänge zu vermeiden, bestand Wissenschaftsminister Willingmann vor einer Kehrtwende auch öffentlich auf belastbare Vorgaben aus dem Bildungsressort. Mit Vorlage der Bedarfszahlen im Juni gelang die Anpassung zum Wintersemester sprichwörtlich in letzter Minute.

Sprecher: Material intensiv diskutiert

Damit nicht genug: Um den Einstellungsbedarf von 650 Lehrern in den Schulbetrieb zu gewährleisten, hielt das Bildungsministerium ursprünglich mindestens 1100 Plätze für Lehramtserstsemester im Land für nötig. Denn längst nicht alle Studienbeginner werden auch Lehrer und bleiben im Land. Mit dieser Zahl wäre auch die Uni Magdeburg bei der Lehrerausbildung wieder stärker ins Spiel gekommen. Ein Vertreter des Wissenschaftsministeriums habe gegen die Zahlen aber interveniert, sagt Banse. 1100 Plätze seien zu viel, 800 müssen reichen, habe er erklärt. In die Öffentlichkeit gelangte danach nur die Vorgabe von 800 Plätzen.

Stefan Thurmann, Sprecher im Bildungsministerium, weist Kritik zurück. „Grundlagen und Datenmaterial wurden intensiv in der Expertengruppe diskutiert“, betont er. Sowohl die Bedarfe der Privatschulen als auch Faktoren wie Langzeiterkrankungen und Elternzeiten seien berücksichtigt worden. Das Papier wurde im Bildungsministerium erarbeitet, die Kommission habe zugestimmt. Zum Vorgehen vor der Veröffentlichung erklärte Thurmann: „Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass solche extrem relevanten Zahlen dem Kabinett vorgelegt werden, sobald sie vorliegen.“

Höhere Erfolgsquote im Lehrerstudium

Auch das für die Lehrerausbildung zuständige Wissenschaftsministerium hält Vorwürfe für unbegründet, geht aber nicht auf die Intervention in der Kommission ein: Man habe sich bei der Vorgabe für die Studienplatzzahl im Lehramt ausschließlich von sachlichen Gründen leiten lassen, sagt Sprecher Gerhard Gunkel. Die Zahl von 800 Plätzen begründet er mit einem niedrigeren Lehrerbedarf ab 2023. Das Ministerium beruft sich dabei auf die Vorlage aus dem Bildungsministerium und rechnet ab diesem Zeitpunkt bis 2030 nur noch mit 600 benötigten Lehrern jährlich. Hinzu komme, dass die Martin-Luther-Universität entgegen früheren Erfahrungen damit rechne, dass rund 75 Prozent der aktuellen Lehramtsanwärter ihr Studium erfolgreich abschließen würden. Das wären weitaus mehr als zuletzt.

Grundlage für die vom Bildungsminister vorgelegten Zahlen ist eine aktuelle Bevölkerungsprognose. Ihr zufolge werden 2025 180.000 Schüler allgemeinbildende Schulen im Land besuchen, 21.000 mehr als bisher erwartet. Für Aufsehen hatte im Juli eine Studie der Bertelsmann-Stiftung gesorgt, die für 2025 bundesweit 1,1 Millionen Schüler mehr vorhersagt, als von der Kultusministerkonferenz berechnet.

Stiftungsvorstand Jörg Dräger sagte damals: In der Bildungspolitik bestehe jetzt enormer Handlungsdruck, viele Länder müssten komplett umdenken.